Agenda 2010 – Deutschland

  • 2003 – Gerhard Schröder verkündet die “Agenda 2010”
  • Wikipedia DE: Agenda 2010
  • Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II bedeutet für mehr als die Hälfte der Betroffenen Einkommenseinbußen.
  • Leiharbeit sei aufgrund der günstigen Personalkosten und wegfall der zeitlichen Beschränkungen  für Arbeitgeber ein attraktives Modell und finden daher weite Verbreitung.
  • Mehr Arbeitsplätze sind nötig, um die Zahl der Beitragszahler für die Sozialversicherung zu erhöhen. Durch Reduzierung der Lohnnebenkosten sollen die Kosten für Arbeitsplätze gesenkt werden.
  • Der wirtschaftliche Aufschwung wurde nur „relativ bescheidene“ verstärkt. Konsumzurückhaltung aus Angst vor Hartz IV war dagegen kontraproduktiv.

Die Agenda 2010 (sprich „Agenda zwanzig-zehn“) ist ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, das von 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung weitgehend umgesetzt wurde. Die Reform wurde von der Bertelsmann Stiftung maßgeblich beeinflusst. Der „Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung“ der Stiftung – u. a. im Wirtschaftsmagazin Capital publiziert – ist inhaltlich zu weiten Teilen übernommen worden.

Die Bezeichnung „Agenda 2010“ verweist auf Europa. So hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 auf einem Sondergipfel in Portugal beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 nach der sog. „Lissabon-Strategie“ zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die Inhalte der Agenda 2010 decken sich jedoch nur begrenzt mit denen der Lissabon-Agenda, die auf die Förderung von Innovation, der Wissensgesellschaft und der sozialen Kohäsion abzielte.

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17. August 2009

Bertelsmann, der erfolgreichste Medienkonzern Deutschlands und Europas, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als wesentlicher Initiator der Reformen im Sozial-, Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungsbereich, die von der SPD-Regierung umgesetzt werden. Mit wachsender Unbeliebtheit der Schröder-Regierung setzt der Konzern schon jetzt auf Merkel und die CDU/CSU, damit diese die sog. Reformen weiterführen.

Die aufdringliche Sprache, mit der ein Peter Glotz (siehe letzte Ausgabe) seine postmoderne Zukunftsphantasie entwirft, ist charakteristisch für jene Professoren- und Schreiberzunft, die unter dem machtvollen Einfluß der Bertelsmann AG und der mit ihr verbundenen Bertelsmann-Stiftung “;gleichgeschaltet”; wurde, um der Bevölkerung die Reformlügen einzuhämmern. Worte wie Reformstau, Strukturreformen, Entstaatlichung, Deregulierung, Privatisierung, Generationengerechtigkeit und Sozialabbau sollen uns davon überzeugen, daß angeblich einzig ein radikaler Sparkurs und Abbau von Sozialleistungen den Ausweg aus der Wirtschafts- und Finanzmisere weisen kann.

Wie der ehemalige Planungschef im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und später unter Helmut Schmidt, Albrecht Müller, in seinem Buch Die Reformlüge richtig darlegt, handelt es sich um “;öffentliche Meinungsmacher“;, die “;ein wahnhaftes Gedankenkonstrukt“;, “;eine gedankliche Obsession“; verbreiten. In einem Interview im Fernsehsender Phoenix wies Müller darauf hin, daß die Bertelsmann-Stiftung maßgeblich an der Ausarbeitung der Reformagenda 2010 beteiligt war. Auf der Grundlage ihrer Kontrolle über die Medien sorgte sie dafür, daß in allen Medien die von ihr vorgegebene Linie von Professoren (vom Schlage eines Glotz) und anderen eifrigen Schreiberlingen wiedergegeben wurde – und das so lange und so oft, bis es alle glaubten.

Unterstützt werden derartige PR-Kampagnen u.a. von neoliberalen Initiativen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die der ehemalige Bundesbankchef Tietmeyer am 12. Oktober 2000 gründete. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft arbeitet eng mit Meinhard Miegels Bürgerkonvent zusammen und hat sich seit Mai 2004 mit acht weiteren Initiativen zur Initiative Aktionsgemeinschaft Deutschland zusammengeschlossen. (Miegel ist A. Müller zufolge wissenschaftlicher Berater des Deutschen Instituts für Altersvorsorge DIA, zu dessen Gesellschaftern neben dem Versicherungskonzern Deutscher Herold auch die DWS Investment GmbH und die Deutsche Bank gehören.)

Der Hinweis auf die Bertelsmann AG und ihre Stiftung ist sehr aufschlußreich. Denn dieser Medienkonzern mutierte seit seiner Entstehung 1835 von einem Verlag unter Carl Bertelsmann, der sich vornehmlich als Verleger christlicher Literatur und als Sprachrohr der pietistischen Erweckungsbewegungen in Westfalen verstand, über den erfolgreichsten Lieferanten von Wehrmachtsliteratur während der Kriegszeit zum führenden Medienkonzern Deutschlands und Europas, den der 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Reinhard Mohn zielbewußt aufbaute.

Frank Böckelmann und Hersch Fischler haben die Hintergründe in ihrem Buch Bertelsmann – Hinter der Fassade des Medienimperiums ausführlich dokumentiert.

Das Kapitel “;Wie Reformen gemacht werden – Die Bertelsmann Stiftung und ihr politischer Einfluß“; gibt Einblick in die Methode, mit der Deutschlands größter Medienkonzern und dessen Stiftung in den letzten Jahren das geistige Umfeld und die Ideen für die jetzt heiß umstrittene Reform 2010 lieferten.

Die reichste Stiftung Deutschlands

Ein Hinweis ist die Feier, mit der am 6. November 2003 in Berlin das neue Haus der Bertelsmann-Stiftung in Berlin, Unter den Linden, eröffnet wurde. Etwa 600 Gäste waren geladen, darunter Prominente aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur. In dem Buch heißt es: “;Die Creme de la Creme scharte sich um Liz Mohn und die beiden Hausherren: Günter Thielen von der Bertelsmann-AG und Heribert Meffert von der Bertelsmann-Stiftung. Bundeskanzler Schröder war anwesend. Mit ihm kamen Minister, Politiker, Wirtschaftsgrößen, Schriftsteller, Schauspieler, Stars und Sternchen und die wichtigsten Medien- und Meinungsmacher.

Angela Merkel vertrat die Opposition von CDU/CSU, Guido Westerwelle feierte für die FDP… Weiterhin amüsierten sich: der SPD-Politiker Egon Bahr, Daniel Coats und Shimon Stein aus den amerikanischen und israelischen Botschaften, die Verleger Friede Springer und Georg von Holtzbrinck, Telekom-Chef Kai Uwe Ricke, Erich Sixt, Rudolf Miele, Rolf E. Breuer von der Deutschen Bank, Bernd Kundrun von Gruner & Jahr, die Fernsehmoderatorenriege mit Sabine Christiansen, Sandra Maischberger und Anne Will, sowie die beiden Stars aus Bertelsmanns RTL Group, Gunter Jauch und Oliver Geissen, der Unternehmensberater Roland Berger, die Tennislegende Boris Becker, die Schriftsteller Rolf Hochhuth und Walter Kempowski (der gelegentlich Beiträge für Bertelsmann-Festschriften verfaßt), die Schauspieler Iris Berben, Manfred Krug, Ben und Meret Becker und so weiter.”;

In seiner Begrüßungsansprache erklärte Kanzler Schröder, er hoffe, daß von dem neuen Kommunikationszentrum eine Bereicherung des politischen und kulturellen Dialogs in Berlin und Deutschland ausgehen werde. Günther Thielen von der Bertelsmann AG hob das “;kulturelle Engagement”; der Bertelsmann-Stiftung hervor. Hier könne man informieren, kommunizieren und vor allem über aktuelle Themen, brennende Zukunftsfragen und gesellschaftliche Perspektiven diskutieren.

Und der Leiter der Bertelsmann-Stiftung Meffert verwies darauf, daß sich die Stiftung als “;Identifikationspunkt der Reformarbeit”; in Deutschland bewährt habe. Sie rege als “;Think Tank der Republik”; die Entscheider zum Nachdenken und Umdenken an. Meffert zitierte Reinhard Mohn: “;Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden.”;

Die Bertelsmann-Stiftung ist die reichste Stiftung Deutschlands und wurde im Jahre 1977 vom Chef der Bertelsmann AG, Reinhard Mohn, in Gütersloh gegründet. In ihrem Präsidium sitzen Reinhard und Liz Mohn; ihnen zur Seite stehen Heribert Meffert und der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. Kaufmännischer Geschäftsführer ist Johannes Meier, der seine Karriere bei der amerikanischen Beraterfirma McKinsey begann.

Mit mehr als 250 Akademikern versucht die Stiftung, die an zahlreichen Projekten beteiligt ist, überall den Ton an- und die Denkrichtung vorzugeben. In dem Buch von Böckelmann und Fischler heißt es: “;In Modellversuchen testen sie unter Praxisbedingungen, was die öffentliche Hand landes-, bundes- und europaweit auf den Weg bringen soll. Große Teile der deutschen Gesundheits-, Hochschul- und Arbeitsmarktreformen werden von ihnen konzipiert. Die Stiftung versteht sich als Deutschlands führende Reformwerkstatt mit dem Ziel, die Republik aus ihren Sackgassen herauszuführen.”; Sie warte nicht, bis von anderen Stellen förderungswürdige Konzepte und Projekte an sie herangetragen werden, sondern trete selbst an die entsprechenden Wissenschaftler, Ökonomen und Politiker heran.

Das Schwergewicht lege die Denkfabrik des Bertelsmann-Imperiums auf die Bereiche Arbeits- und Sozialpolitik, Bildungs- und Hochschulpolitik, Gesundheitspolitik und Internationale Verständigung. Das oberste Ziel der Stiftung sei: Förderung der Zukunftsfähigkeit. Die meisten Projekte hätten sich zu Netzwerken entwickelt, betrieben in Kooperation mit Regierungen, Verbänden, Firmen oder Initiativen.

Bildungsreform

Eines der Kernanliegen der Bertelsmann-Stiftung sei die Bildungsreform, in der Mohn den Schlüssel zur Gesellschaftsreform sieht: “;Lange Zeit wurden mehr als 50% aller Ausgaben in diesen Bereich investiert.”; So sei ein großer Nutznießer der Bertelsmanngelder das 1994 auf Initiative von Mohn gegründete Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Unter der Leitung von Detlef Müller-Bölig erstellten dort 20 Mitarbeiter “;Hochschul- und Forschungsrankings”; und propagierten in Kursen für Hochschulmanagement mehr Produktivität und Effizienz in Forschung und Lehre. “;Auf internationalen Symposien über Hochschulmarketing, Qualitätssicherung und Personalmanagement bringt das CHE europäische Universitäten zusammen. Man stellt vergleichende Studien über Hochschulabschlüsse an, um deren Vereinheitlichung in der EU voranzutreiben… Man versucht, per Modellrechnung Studiengebühren an deutschen Hochschulen einzuführen, plädiert auf allen Gebieten einschließlich der Professorenbesoldung für mehr Wettbewerb, und vor allem: Man initiiert Veranstaltungen, auf denen Hochschulen und Fachhochschulen Verwaltungserfahrungen und vertrauliche Daten austauschen.”;

Anfang 2004 habe Müller-Bölig die Tatsache begrüßt, daß der Kanzler nun Studiengebühren zulassen, den Wettbewerb an den Hochschulen intensivieren und Eliteuniversitäten etablieren wolle. “;Die SPD verkündete ein Offensivprogramm zur Überwindung der wirtschaftlichen Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit. In seinem Zentrum stand die Hochschulpolitik. Das Konzept dahinter trug die Handschrift des CHE und der Bertelsmann-Stiftung.”;

CHE-Leiter Müller-Bölig gab im Jahr 2000 ein Buch heraus, in dem er den Plan für eine “;Umwandlung der Universitäten in erfolgorientierte Organisationen”; vorstellte. Massiver Druck gehe dabei von den CHE-Hochschulrankings aus, in denen das CHE Jahr für Jahr die Leistungsfähigkeit der Universitäten mißt. Sie würden mittlerweile bundesweit als verbindliche Maßstäbe anerkannt, schreiben Böckelmann und Fischler. “;Fällt eine Universität im Ranking zurück, verliert sie Anziehungskraft für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das hat Folgen für die Politik. Die Verantwortlichen in den Ländern, die gern vom guten Image ihrer Universitäten profitieren, sehen sich gezwungen, auf mehr Effizienz im Sinne Bertelsmanns zu setzen.”;

Weiter heißt es: “;In NRW gestaltet die Stiftung die Schulreformen. Man führt – wiederum – internationale Leistungsvergleiche durch. Ein Netzwerk von 400 innovativen Schulen bearbeitet drängende Themen praxisnah und organisiert natürlich Expertenrunden. Auf Fachtagungen macht man die Lehrer mit wirtschaftlicheren Verwaltungsmethoden vertraut. Zugleich gesteht die nordrhein-westfälische Landesregierung den Schulen mehr Selbstverwaltung zu.”;

Eng gestalte sich auch die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bibliotheken. So entwickelte die Stiftung den Bibliotheksindex BIX, der die Akzeptanz der Bibliotheken durch die Bevölkerung mißt. Dabei seien die Methoden immer die gleichen: Leistungsvergleiche, Modellversuche, Fortbildung, der Aufbau von Netzwerken und die enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen. “;Alles dreht sich um Leistungskennziffern, Kostenrechnungen und Optimierungsmodelle, Rationalisierung und Kostensenkung.”;

Agenda 2010

Zwischen der Stiftung und der rot-grünen Regierungskoalition bestehe seit 1998 eine Zusammenarbeit. So sei es der Stiftung gelungen, “;der Agenda 2010 des Reformkanzlers ihren Stempel aufzudrücken”;. Dies schreibt auch Albrecht Müller in Die Reformlüge. In Bertelsmann – Hinter der Fassade des Medienimperiums von Böckelmann und Fischler heißt es weiter: “;Bezeichnenderweise ist es nahezu unbekannt, daß die Stiftung die Hochschul-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik seit dem Antritt der Regierung Schröder entscheidend bestimmt hat… Daß in Gütersloh erdacht wurde, was Gerhard Schröder und seine Mannschaft derzeit in den demographischen Keller sinken läßt, nimmt in der Presse kaum jemand zur Kenntnis.”;

Das stark neoliberale Grundkonzept der Agenda 2010 stamme aus den angelsächsischen Ländern; es ziele darauf ab, die Wachstumsschwäche der Wirtschaft durch mehr Innovation und Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Systemen zu überwinden.

Dabei liege die Hauptforderung auf “;Eigeninitiative”; und Kostensenkung: “;Seit Anfang der 90er Jahre drängt die Stiftung zu entsprechenden Reformen und empfiehlt drastische Notbehelfe wie die Abschaffung der Arbeitslosenversicherung (die Arbeitnehmer sollen selbst vorsorgen) und eine Halbierung der Sozialabgaben. Alle markanten Reformen der Schröderschen Agenda orientierten sich bisher an Vorarbeiten in den Bertelsmann-Instituten. Von September 1999 bis April 2003 förderte die Stiftung das Projekt der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Hier entstanden die Grundlagen für Hartz IV, das groß angekündigte Vorhaben der Bundesregierung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammenzulegen…

Im Sommer 2000 ließ man bei Arbeits- und Sozialämtern statistisch überprüfen, wie viele Fälle unkoordiniert doppelt von beiden Stellen bearbeitet wurden. Die Entdeckung von Mißständen war Wasser auf die Mohnsche Mühlen. Ineffizienz! Schon am 1. Dezember 2000 wurde die optimale Zusammenarbeit beider Institutionen gesetzlich vorgeschrieben. Ein halbes Jahr später, im Sommer 2001, unterbreitete die Stiftung Vorschläge zur Umsetzung der neuen staatlichen Vorgaben… Auch die Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur begleitete Bertelsmann von Anfang an. Schon vor 1995 startete das Projekt ,Leistungsorientierte Führung in der Bundesanstalt für Arbeit’. Die Einführung der Job Center und Personal Service Agenturen (PSA) geht auf das Konto von Stiftungsmitarbeitern und Unternehmensberatern bei McKinsey. Das Konzept entwickelten beide Institutionen in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt. Als Berater für die Bundesagentur schlug Bertelsmann einen Mann der Konzernspitze – Schiphorst – vor”;, der die Anzeige “;Auch wir sind das Volk”; mit unterzeichnet hat.

Die Bertelsmann-Stiftung begleite daher mit viel Aufmerksamkeit den Prozeß der Erneuerung durch die Agenda 2010. Wie Böckelmann und Fischler berichten, werden in einem Beschäftigungsranking die Fortschritte der 21 wichtigsten Industrienationen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verglichen. Man prüfe die Wettbewerbsfähigkeit der Ämter und in der Bildungs- und Hochschulpolitik aufs Genaueste. Es würden Indizes für Wirtschaftlichkeit, Kundenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit in allen kommunalen Verwaltungen erstellt und zugleich die Leistungen der Finanzämter gemessen.

Ein Projekt namens “;unternehmerfreundliche Kommune”; ermittele in den 25 größten deutschen Städten die servicefreundlichste Verwaltung. Man erhebt Daten zur Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe und publiziert sie als Ranking in der Zeitschrift Impulse, die wie der Stern zu Gruner & Jahr und damit zur Bertelsmann AG gehört. “;Auch in der Gesundheitspolitik leistet die Bertelsmann Stiftung ihren Beitrag… An der Universität Münster finanzieren die Gütersloher ein Zentrum für Krankenhausmanagement, das die Verwaltung modernisieren soll. Der Newsletter Gesundheitsmonitor publiziert regelmäßig die Ergebnisse von Meinungsumfragen zum Status quo der ambulanten Versorgung in der Bundesrepublik. Ein ,Internationales Netzwerk der Gesundheitspolitik’ veröffentlicht Übersichten über die Reformaktivitäten in 16 Ländern.”;

Zum anderen offeriere die Stiftung unverfängliche Anlässe für zwanglose Begegnungen; wer in Politik, Verwaltung und Medien etwas erreichen will, nutze sie ganz selbstverständlich. Zwischen Stiftung und Politikern, hohen Verwaltungsbeamten, Universitätslehrern, Verbandsfunktionären und Wirtschaftsfachleuten eröffneten sich so vielfältige Möglichkeiten.

Werner Weidenfeld und CAP

Das Medienimperium sei mittlerweile so weit verzweigt, daß kein Politiker eine Absage an die Gütersloher Adresse riskieren kann. Wer von Bertelsmann hofiert werde, erhalte den Ritterschlag: “;Im Februar 2004 waren Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zu Gast. Einige Wochen zuvor nahm die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Cornelia Schmalz-Jacobsen an einem Experten-Hearing teil. Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble trafen im Bertelsmann-Forum in der Gütersloher Hauptverwaltung zusammen. 2003 besuchten Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und Kanzler Schröder gleich mehrmals Veranstaltungen der Stiftung. Gern gesehene Gesprächspartner waren auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn, Guido Westerwelle, Edmund Stoiber, Spaniens früherer Ministerpräsident José Maria Aznar, der ehemalige Chef der Bundesanstalt für Arbeit Florian Gerster, Bundesinnenminister Otto Schily und Ex-Bundespräsident Roman Herzog… Die Besuche von Fachministern und Staatssekretären sind noch zahlreicher… Solche Zusammentreffen auf mittlerer und unterer Entscheidungsebene sind tägliche Routine.”;

Eine führende Rolle spiele dabei Werner Weidenfeld, der in der Bertelsmann-Stiftung offiziell für internationale Zusammenarbeit zuständig ist. Weidenfeld ist seit 1992 Mitglied im Stiftungspräsidium. Praktische Erfahrungen sammelte Weidenfeld in den 80er Jahren als Koordinator der Bundesregierung für deutsch-amerikanische Beziehungen. Seit 1995 ist er als Gründungsdirektor für das Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP) in München tätig.

Hier entwickelt er in enger Abstimmung mit Bertelsmann “;politikfähige Konzepte”;. Jeder unter den Entscheidungsträgern, der irgendwie von Nutzen sein kann, werde bei Weidenfeld zu Arbeitstreffen, Wochenendseminaren, Expertengesprächen, Symposien, Konferenzen oder Sommerakademien geladen. Regelmäßig lade die Bertelsmann-Stiftung zu den sogenannten Kronberger Gesprächen ein, einer Expertenrunde, die sich schwerpunktmäßig dem Nahen Osten widmet. Daneben gebe es den “;Trialogue of the three: Russia, USA, Europe”; – Gespräche, die unter der Regie des englischen Verlegers Lord Weidenfeld regelmäßig stattfinden.

Die Mehrheit der CAP-Mitarbeiter sind zugleich Mitglieder der Bertelsmann-Forschungsgruppe, heißt es weiter. Beim internationalen Bertelsmann-Forum “;treffen sich von CAP organisierte Staats- und Regierungschefs und handverlesene Persönlichkeiten zu handverlesenen Themen”;. Die Foren finden im Hotel Petersberg in Bonn oder im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Berlin statt. Diskutiert werde da über die europäische Verfassung, europäische Integration und Außenpolitik, über transatlantische Beziehungen oder den Nahostkonflikt. “;Eingebürgert hat sich auch, daß die turnusmäßig wechselnden Repräsentanten der Europäischen Union vor ihrem Amtsantritt in einem Schnellkurs der Stiftung für ihre Führungsarbeit gedrillt werden.”;

Die gemeinsam mit der Nixdorf-Stiftung ausgerichtete Sommerakademie “;Europa”; bindet das Fußvolk auf Ministerial- und Beraterebene ebenso wie den Nachwuchs an der Bertelsmann-Stiftung. Mentoren sind z.B. Stefan Baron von der Wirtschaftswoche, Fritz Pleitgen von der ARD, Wolfgang Clement, Hans Eichel, Joschka Fischer, Wolfgang Gerhardt von der FDP, Katrin Göring-Eckardt von den Grünen, Mathias Leinert von der Daimler Chrysler AG, Roland Koch, Friedrich Merz, Heinrich von Pierer von der Siemens AG, Bernd Pitschedsrieder, der scheidende BDI-Chef Michael Rogowski sowie die Eurokommissare Michaele Schreyer und Günter Verheugen. Aufgeführt ist auch Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. Er ist gleichzeitig der offizielle Leiter des Brüsseler Bertelsmann-Büros.

Schwenk von Rot-Grün zu CDU-CSU

Der innenpolitsch bedeutsamste Event ist der sogenannte Kanzlerdialog. Alljährlich trifft sich Gerhard Schröder mit seinen Ministern, den Ministerpräsidenten der Länder sowie den Vorsitzenden der Parteien und Bundestagsfraktionen zu einer Klausurtagung – deren Ort, Zeit und Ablauf CAP und Bertelsmann-Stiftung vorschlagen. Im Oktober 2003 redete man unter Bertelsmann-Moderation und Weidenfelds Gesprächsleitung über die “;Kursbestimmung deutscher Europapolitik”;.

Böckelmann und Fischler unterstreichen in ihrem Buch, daß Schröders Wahlsieg und die Agenda 2010 auf dem Terrain der Bertelsmann-Medien und der Bertelsmann-Stiftung gewachsen ist: “;Gerhard Schröder, Joschka Fischer und das rot-grüne Kabinett haben eng mit der Stiftung kooperiert, als es um die Agenda 2010 ging. Bertelsmann hat sie als Köpfe der Agenda ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und ist klugerweise vornehm im Hintergrund geblieben. Jetzt bekommt die rot-grüne Koalition die Quittung für die harschen Reformen. Ein weiterer Wahlsieg erscheint unwahrscheinlich. Und bei Bertelsmann beginnt man umzudenken.”;

Ein erstes Signal für einen möglichen Schwenk sei die Tatsache, daß Tim Arnold den Konzern verlassen hat. Er war seit 2002 Sprecher der Bertelsmann-Tochter Random House und einst als Kommunikationschef des früheren Chefs der Bertelsmann AG, Middelhoff, tätig. Arnold werde jetzt Berater des CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 Jürgen Rüttgers. “;Die Wahlentscheidungen im bevölkerungsreichsten Bundesland gelten für gewöhnlich als richtungsweisend. Sollte die CDU die Wahlen gewinnen, besitzen die Mohns und Bertelsmann die besten Voraussetzungen für künftige Kooperationen mit der neuen Landesregierung.”;

Auch in weiser Vorausschau auf die nächsten Bundestagswahlen erschien in der zweiten Ausgabe der Monatszeitschrift Cicero am 29. April 2004 eine überschwengliche Eloge von Liz Mohn über Angela Merkel; sie bescheinigt ihr Sensibilität, Einfühlungsvermögen, Klarheit, Offenheit, Kritikfähigkeit, Geduld, Eindringlichkeit, Fürsorglichkeit, Führungsstärke, Ehrlichkeit, Urteilsfähigkeit, Gerechtigkeitsgefühl, einen mitfühlenden, anpackenden, mutigen, offensiv nachdenklichen und überhaupt gut organisierten Charakter. “;Im Oktober 2003 nahm Angela Merkel in Bonn den Zukunftspreis der Sozialausschüsse entgegen. Die Laudatio hielt Liz Mohn. Preisverleihungen, an denen Bertelsmann beteiligt ist, kündigen in den meisten Fällen Tendenzwenden an.”;

Elisabeth Hellenbroich